Als ich in den Neunzigerjahren Kind war, liebte ich nichts so sehr, wie mit meinen Eltern auf die Kirmes zu gehen. Als ängstlicher Junge bestand ein großes Vergnügen von mir darin, die Attraktionen ausgiebig zu beobachten und das persönliche Risiko sorgfältig abzuwägen. Geisterbahnen, Laufgeschäfte und Shows beschäftigten meine Fantasie folglich am meisten. Man konnte hier nur sehr grob erahnen, was im Inneren Schrecklich-Schönes geschehen würde…
Amazonas meets Rummel
Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang noch lebhaft an die Amazonas-Schau von Arthur Heppenheimer. Auf der Fassade prangte in großen Buchstaben: „Die Wunderwelt des Meeres“. Draußen stand ein Mann mit einer riesigen Schildkröte, die Salatköpfe fraß. Ausgiebig sprach der Schausteller von den „Schrecken des Amazonas“, denn auch Aquarien mit Piranhas gehörten zum Geschäft, genau wie ein Papagei, der herrlich auf Bayerisch fluchen konnte.
Hollywood lässt grüßen
Die Schaustellerfamilien Bügler und Barber waren in diesen Jahren mit ihren beiden Haischauen im Land unterwegs. Die Fassaden der Geschäfte zeigten reißerisch eine Vielzahl blutrünstiger Haie, der berühmte Film von Steven Spielberg stand unverkennbar Pate. Keine Frage, da musste ich unbedingt rein! Hatte man Eintrittskarten gekauft, ging es in ein stickiges Zelt, Aufregung, Spannung, Warten… Schließlich schnellte das Rollo hoch und der Blick fiel auf ein riesiges, auf einen Anhänger gebautes, Seewasseraquarium, Zitronenhaie und Ammenhaie zogen im schummerigen Licht ihre Bahnen.
Faszination und Enttäuschung
Um das Publikum bei Laune zu halten, stieg nun zu dramatischer Musik eine junge Dame ins Aquarium und schwamm neckisch mit den Haien. Gleichzeitig erklärte ein Mann mehr oder minder interessante Inhalte zu Arten, Sinnesleistungen und Verhalten der Haie, stets mit einem gewissen Hang zum Sensationellen und zur Betonung großer Gefahr. Ich war hingerissen und ein wenig enttäuscht, hatte ich doch größere Tiere im Zelt erwartet. Vielleicht einen Weißhai von acht Metern Länge… Ach was, gleich drei!
Fragen über Fragen
Seit rund 30 Jahren sind die hier beschriebenen Attraktionen Geschichte. Mit Ausnahme von ein paar Mäuseshows, Ponyreiten und einem Flohzirkus gibt es keine lebenden Tiere mehr auf deutschen Rummelplätzen. Als stolzes VDA-Mitglied und erwachsener Mensch kommen mir so viele Fragen in den Sinn: Wie viele Liter fassten die Aquarien? Haben Haie eigentlich Wanderdruck? Was für Filtersysteme wurden verwendet? Wie oft war ein Wasserwechsel nötig? Hat ein Tierarzt die Attraktionen regelmäßig kontrolliert? Mit welcher Geschwindigkeit waren die Riesenbecken auf deutschen Autobahnen unterwegs? Gab es nennenswerte Proteste? Hat einer der Haie vielleicht doch mal nach der Frau geschnappt? Was ich sicher weiß: Ich fing durch diese kuriosen Schauen zum ersten Mal in meinem Leben für das Thema Aquaristik Feuer. Von der primitiv-kindlichen Sensationsgier zum aufrichtigen Interesse an Vivaristik und Artenschutz, da kann man doch mal nicht meckern, oder?
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Nachtrag: Zuschrift vom 10.04.2025
Dieser Beitrag hat aufmerksame Leserinnen und Leser gefunden – darunter auch zwei ausgewiesene Fachleute: Dr. Bernhard Eisel, derzeit an der Universität Tübingen mit einem Habilitationsprojekt zur Tierethik betraut, sowie Dr. med. vet. K. Alexandra Dörnath, Wildtierärztin mit jahrzehntelanger Erfahrung. In einer ausführlichen Mail haben sie ihre Perspektive auf das Thema mit uns geteilt. Die Zuschrift ist in vielerlei Hinsicht bereichernd: Sie ergänzt die im Beitrag beschriebenen Eindrücke aus der Kindheit und Jugend um fundierte fachliche Informationen zur Haltung von Elasmobranchiern (Haien und Rochen), beleuchtet die historische Praxis der reisenden Haiaquarien auf Kirmesplätzen und reflektiert kritisch, wie solche Tierpräsentationen aus heutiger Sicht zu bewerten sind. Auch Dr. Eisel und Dr. Dörnath erinnern sich lebhaft an die Hai-Schauen der Familien Bügler und Barber, die in den 1980er- und 1990er-Jahren auf Jahrmärkten und Einzelveranstaltungen zu sehen waren. Mehrfach haben sie diese Anlagen selbst besucht – nicht aus Sensationslust, sondern mit tiermedizinischem und verhaltensbiologischem Interesse. Aus ihrer Sicht waren diese Präsentationen durchaus geeignet, Neugier und Bewunderung für die Tiere zu wecken. Dabei, so betonen sie, kommt es nicht nur auf die äußere Gestaltung oder das gezeigte Spektakel an, sondern vor allem auf den vermittelten Umgang mit dem Tier. Gerade im Hinblick auf Arten wie Zitronen- oder Ammenhaie, die ein eher ruhiges Wesen aufweisen, sei ein achtsames und zugleich öffentlich sichtbares Miteinander zwischen Mensch und Tier möglich gewesen – und habe zum Teil auch vorbildhaft funktioniert.
Fakten statt Vorurteile
In ihrer Zuschrift liefern die beiden Autoren konkrete Informationen zur technischen Ausstattung der Schauaquarien. So handelte es sich um großvolumige Fish-Only-Meerwassersysteme mit einem Fassungsvermögen von etwa 26.000 bis 30.000 Litern. Die Filterung erfolgte über Eiweißabschäumer und biologische Filtermaterialien; UV-Klärtechnik war optional und wäre nach heutigen Standards vermutlich ergänzt worden. Auffällig sei gewesen, so schreiben sie, dass die Becken über eine hervorragende Wasserqualität verfügten – erkennbar am kristallklaren Wasser, dem fast vollständigen Fehlen von Algen und dem augenscheinlich gesunden Verhalten der Tiere. Weder Apathie noch äußerlich sichtbare Krankheiten oder Verletzungen konnten bei den beobachteten Haien festgestellt werden. Gehalten wurden hauptsächlich Negaprion brevirostris (Zitronenhaie) sowie Ginglymostoma cirratum (Ammenhaie), beides Arten mit eher begrenztem Bewegungsbedarf und entsprechend geeigneter Eignung für die Haltung in großen Schauaquarien. Das genutzte Beckenvolumen habe – gemessen an wissenschaftlichen Empfehlungen – das tierschutzrechtlich vertretbare Maß erfüllt oder sogar überschritten, heißt es in der Zuschrift.
Verantwortung, Öffentlichkeit und Wissenschaft
Neben den technischen Aspekten sprechen die beiden Autoren auch grundsätzliche Fragen an: Wie bewerten wir öffentliche Tierpräsentationen im Rückblick? Welche Maßstäbe legen wir heute an? Und wie unterscheiden wir zwischen fundierter Kritik und ideologisch motivierten Haltungen? Eisel und Dörnath machen deutlich, dass sie eine klare Trennlinie zwischen seriösem Tierschutz und der Rhetorik radikaler Tierrechtsorganisationen ziehen. Aussagen, die sich pauschal gegen jede Tierhaltung im Rahmen von Schauveranstaltungen richten, halten sie für wissenschaftlich nicht haltbar. Wichtig sei, so schreiben sie, dass Einschätzungen zur Tierhaltung auf überprüfbaren Kriterien beruhen – nicht auf Meinungen oder Kampagnen. Gleichzeitig sprechen sie sich für einen sensiblen, respektvollen Umgang mit Sprache aus. Der im Beitrag verwendete Begriff „freie Wildbahn“ sei irreführend, da auch der natürliche Lebensraum vieler Tiere durch äußere Zwänge geprägt sei. Präziser sei der Begriff „natürlicher Lebensraum“, der ökologische Zusammenhänge differenzierter abbilde. Die Zuschrift von Dr. Eisel und Dr. Dörnath ist ein wertvoller Beitrag zur Einordnung unseres Textes. Sie zeigt: Tierpräsentationen wie die Haischau auf der Kirmes lassen sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten – emotional, historisch, ethisch, tierschutzrechtlich. Dabei gibt es keine einfachen Antworten, sondern ein breites Feld, das offen ist für differenzierte Debatten und gemeinsame Lernprozesse. Als Verband begrüßen wir solche fachlichen Rückmeldungen ausdrücklich. Sie helfen uns, Themen vertieft zu beleuchten, unterschiedliche Sichtweisen zu verstehen und unsere eigene Arbeit im Spannungsfeld zwischen Tierhaltung, Bildungsauftrag und öffentlicher Wahrnehmung weiterzuentwickeln.