Meine Familie und ich wohnen nicht weit entfernt vom Berliner Zoo (West), zu Fuß sind es von unserer Wohnung nur knapp zwei Kilometer bis zum Haupteingang. Meine Tochter ist vier und seit gut zwei Jahren haben wir Drei unsere Jahreskarten. Mindestens zweimal im Monat gehe ich mit Charlotte in den Zoo, im Sommer oft jedes Wochenende. Für uns ist der Zoo der Hauptstadt mittlerweile fast ein zweites Wohnzimmer geworden, während meine Tochter Tiere anschaut oder auf den exzellenten Spielplätzen herumtobt, komme ich oft ins Philosophieren über das Wesen von Zoos und deren Gästen…
Maximal unterschiedliche Menschen
Was sind das eigentlich für Menschen, die Geld zahlen, um sich Tiere anzuschauen? Ausnahmslos alle! So viele maximal unterschiedliche Menschen wie im Berliner Zoo sehe ich sonst an keinem anderen Ort in der Stadt. Da der Berliner Zoo auch bei Touristen aus der ganzen Welt als unverzichtbare Sehenswürdigkeit gilt, herrscht dort stets ein wunderbares Sprachengewirr: Englisch, Spanisch, Niederländisch, Italienisch, Japanisch, Dänisch, Pfälzisch… Nein, eigentlich gibt es nur eine Sache, die alle Zoobesucher verbindet: Sie wollen sich gerne Tiere anschauen. Sehr viele mit ihren (kleinen) Kindern, manche verliebt mit Partner oder Partnerin, einige ganze alleine im stummen Zwiegespräch mit den Tieren. Zoo geht immer, fast alle Menschen schauen sich gerne Tiere an, das war 1910 so und wird auch 2110 so sein.
Total digital
Besonders auffällig anno 2024: Dank Smartphones wird fotografiert, was der Speicherchip hergibt. Vor allem, wenn sich das Tier viel bewegt. Agile Tiere wie Affen oder Erdmännchen ziehen die meiste Aufmerksamkeit auf sich, da recken sich dann auch gerne mal zwei Dutzend Geräte in die Höhe. Reptilien und Fische sind eher etwas für Liebhaber und eingefleischte Fans, Clownfische mal ausgenommen. Sympathische Tiere versus unsympathische Tiere, interessante Tiere versus uninteressante Tiere, fotogene Tiere versus unfotogene Tiere, offensichtlich gibt es diese Grenzen in vielen Köpfen.
Gute Natur, schlechter Mensch
Gerade unter Großstädtern entwickelt sich gerne eine gewisse Naturromantik. Die Natur und die Tiere darin sind ausnahmslos gut, bedroht und edel, der Mensch und die Welt der Technik sind in allen Punkten das genaue Gegenteil. Sind dann folglich Pflanzenfresser bessere Tiere als Fleischfresser? Als ich gestern mit meiner Vierjährigen im Raubtierhaus war, wurde gefüttert: Kücken, Mäuse und Ratten. Wie weggeworfenes Spielzeug lagen die toten Futtertiere in den Gehegen, auch Innereien waren zu sehen. Meine Tochter schaute sich alles sehr interessiert an, fand die toten Futtertiere aber nicht außergewöhnlich oder beklagenswert. Ich sagte laut: „Die Natur ist grausam.“ Meine Frau entgegnete: „Das sind menschliche Kategorien. Tiere haben keine Moral, wir sehen sie an und projizieren unsere Moral auf sie.“ Auch das kann man im Zoo lernen, Tiere stehen jenseits der Kategorien, die unser Leben bestimmen. Damit verweisen sie auf einen Planeten Erde vor der Entstehung des Menschen. Es geht auch sehr gut ohne uns.
Macht oder Interesse?
Besonderer Favorit im Raubtierhaus sind die zwei gewaltigen Sibirischen Tiger. Gestern brüllten sie laut und ausdauernd, Charlotte fand es ein wenig unheimlich. Und auch ich überlegte mir, wen von den Zoogästen sich die Raubkatzen wohl zuerst schnappen würden, wenn sie nur könnten. Halten wir Menschen Tiere, um Macht über sie zu haben, sie zu kontrollieren? Oder halten wir sie, um sie besser zu beobachten und so zu verstehen? Oder weil es uns entspannt und unterhält? Wird man bei einem Zoobesuch zwangsläufig schlauer? Haben Tiere wirklich einen Freiheitsdrang oder verzichten sie bei einem sicheren, bequemen Leben gerne auf ihre Freiheit? „Freiheit ist auch ein menschlicher Begriff, wie Moral“, sagt meine Frau. Wahrscheinlich hat sie Recht, aber es wäre schon interessant, ein Interview mit einem Sibirischen Tiger über das Für und Wieder der Tierhaltung zu führen…